Wie jedes Jahr im April bin ich auch in diesem Jahr wieder zu meinem Vater nach Bremerhaven gefahren, um mit ihm eine Woche lang Aale in der Weser zu fangen. Schon als ganz kleiner Junge hat mich mein Vater zum Aalfang auf sein kleines Boot mitgenommen. Und das haben wir einfach beibehalten. In diesem Jahr feiern wir Jubiläum. Bereits zum 25. Mal fahren wir jetzt gemeinsam für eine Woche auf der Weser. Es ist spät am Abend. Wir haben die Reusen mit Würmern und Schnecken gespickt und an den festgelegten Stellen in Ufernähe ausgesetzt. Morgen Früh zum Sonnenaufgang werden wir hoffentlich viele Aale gefangen haben. Es ist bereits dunkel und ganz still. Selbst das Wasser und die Wellen scheinen sich dieser Ruhe angepasst zu haben. Mein Vater und ich sitzen eine ganze Weile schweigend nebeneinander, da kommt mir wieder unser Jubiläum in den Kopf.
„Sag mal, Papa. Was bedeutet eigentlich Tradition für Dich?“
„Hmm, Tradition? Nun, das Wort kommt ja aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Übergeben oder Überlieferung. Man übergibt quasi Handlungsmuster, Überzeugungen oder Glaubensvorstellungen.“
Traditionen und Gebräuche
„Stimmt. Aber das Weitergegebene selber in Form von Sitten, Gebräuchen und Gepflogenheiten ist auch Tradition. Es gibt zwei Bedeutungen. Wir feiern schließlich jedes Jahr Weihnachten, weil man das schon immer so gemacht hat.“
„Genau, Und wir fahren jedes Jahr im April zum Aalfang, weil wir das gefühlt auch schon immer machen.“ Er lacht laut.
„Es gibt aber auch Dinge, die in Regionen eine lange Tradition haben und in anderen Gegenden vollkommen unbekannt sind. Wie kann das sein?“
„Ich denke es liegt daran, dass Tradition viel mit Kultur, Heimat und der Unterschiedlichkeit der vielen Völker zu tun hat. Wusstest Du, dass in der isländischen Bauverordnung eine Elfenbeauftragte fest verankert ist?“
„Unsinn. Das hast Du Dir jetzt aber ausgedacht.“
„Nein, das ist wirklich wahr. Vor jedem Bauvorhaben muss der Baugrund von der Elfenbeauftragten begutachtet werden, ob dort nicht vielleicht Elfen leben. Nach der Isländischen Folklore werden Felsen und große Steine nämlich von Elfen bewohnt. Und die sind in Island quasi heilig.“
„Und was passiert, wenn eine Elfe entdeckt wird?“
„Dann wird der entsprechende Fels nicht angerührt und die Straße oder was auch immer um diesen Fels herum geführt. Das hat in der Vergangenheit schon für die merkwürdigsten Straßenführungen gesorgt.“
Tradition – Fluch oder Segen?
„Das ist wirklich unglaublich. Da ist die Tradition aber ganz schön hinderlich.“
„Genau das ist auch ein großer Kritikpunkt. Viele Menschen sagen, dass es keinen Fortschritt geben kann, wenn alle immer nur dasselbe wie früher machen. Es kommt zum Stillstand. Die Gesellschaft verändert oder genauer gesagt verbessert sich nicht. Viele, gerade auch jüngere Menschen so wie Du, mögen zwar Traditionen, wollen aber nicht immer danach leben. Sie wollen frei entscheiden und nicht einfach das tun, was auch schon ihre Großeltern und Urgroßeltern gemacht haben.“
„Aber es gibt doch bestimmt auch andere Meinungen. Ansonsten würde es ja keine Traditionen mehr geben.“
„Das siehst Du richtig. Es gibt Menschen, die Traditionen und Bräuche lieben und diese daher auch ganz bewusst ausleben. Ich denke, dass Bräuche oder Rituale etwas Wichtiges sind. Sie vermitteln Ruhe und Sicherheit. Ich behaupte sogar niemand kommt ohne Sitten, Rituale oder Bräuche aus.“
„Also ist es etwas Gutes, dass ich jeden Morgen denselben Ablauf habe?“
Tradition als Struktur
„Ja, das denke ich schon. Es vermittelt Dir eine Struktur. Auch das menschliche Leben, der Jahresablauf und die Jahreszeiten haben schließlich eine feste Struktur und bilden den biologischen Kreislauf mit Geburt, Leben, Tod und Erneuerung ab. Rituale haben in der Gesellschaft etwas Gemeinschaftliches und sie gibt es sogar bei Tieren. Sie stärken das Wir-Gefühl. Das heißt auch, dass wir durch Gewohnheiten und Rituale Veränderungen besser ertragen können.“
„Da hast Du recht. Ich habe bei einem Jobwechsel meine morgendliche Routine einfach beibehalten und war dadurch ruhiger und nicht so nervös.“
„Ja, es hat Dir trotz der Veränderung Sicherheit und Stabilität gegeben. So wie es bei vielen anderen Menschen auch ist. Zusammenfassend könnte man vielleicht sagen, dass Tradition der Kitt der Gesellschaft ist. Aber eben nur, wenn man Traditionen auch anwendet und lebt. Nur dann entfalten sie ihre Wirkkraft. Lebendige Traditionen schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und stiften Identität. Sie bringen Ordnung in den Alltag, helfen möglicherweise Krisen zu bewältigen und erschaffen Begegnungen und Beziehungen zu anderen Menschen oder Gruppen. Dafür müssen sie aber immer wieder eingeübt und erprobt, vorgelebt und erneuert werden. Sonst werden die Traditionen brüchig wie alter Kitt, der nicht mehr haftet und seine Bindungsfähigkeit verliert.“
Ich öffne uns beiden eine Flasche Bier, wir stoßen traditionell an und schweigen wieder.