Neulich fiel mir auf, dass das Futterhaus für unsere Gartenvögel ein neues Dach nötig hätte. Wind und Wetter hatten dem alten Dach doch stark zugesetzt. Also ging ich in den Behelfsverschlag, den mein Vater vor vielen Jahren gebaut hatte und den ich heute als eine Art Werkstatt nutze, um dort Holzarbeiten zu tätigen. Noch heute stehen in dem Verschlag viele Kaninchenställe, in denen ich heute aber keine Tiere mehr halte. Ich nutze sie vielmehr als Holzlager. Gerade als ich die kleine Tischkreissäge anmachte und anfing zu sägen bemerkte ich, dass neben mir kleine Wespen flogen. Es waren einfach zu viele, als dass es sich um einen Zufall handeln konnte. Ich drückte den Ausschalter der Säge und beobachtete eine Zeit lang die Wespen. Sie kamen durch die geöffneten Oberlichter in den Verschlag hinein sowie auch wieder hinaus und steuerten zielstrebig auf einen bestimmten Kaninchenstall zu.
Ein Wespennest
Vorsichtig guckte ich in den permanent angeflogenen Stall und sah an der Decke ein Wespennest der Größe eines Basketballes. Ach, Du meine Güte, dachte ich mir und meine Gedanken begannen sofort zu kreisen. Was mache ich denn jetzt? Muss das Nest weg oder kann es vielleicht bleiben? Wen muss ich zum Entfernen informieren? Darf man das Nest überhaupt entfernen? Ich meine mal gehört zu haben, dass Wespennester geschützt sind und nicht einfach entfernt werden dürfen. Aber wenn ich hier Gift anwende merkt das kein Mensch. Nur muss das wirklich sein? Die paar Male, die ich hier im Verschlag etwas mache, stört mich das Nest doch nicht wirklich. Ganz in meinen Gedanken versunken sehe ich, wie sich plötzlich eine Wespe auf die Kreissäge setzt und mich offensichtlich mustert.
Ein ungewöhnliches Gespräch
Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein, dachte ich noch, als mich die Wespe plötzlich ansprach:
„Hallo, ich bin Nummer 3457 und möchte mit Dir reden.“ Ich war ziemlich überrascht und im ersten Moment fiel mir nichts Besseres ein als zu fragen: „Hallo, wieso bist Du die Nummer 3457? Hast Du keinen Namen?“ So weit kam es schon, dass ich mit einer Wespe sprach und nach ihrem Namen fragte.
„Nein, wir sind einfach zu viele. Da lohnt es sich nicht Namen zu vergeben. Daher haben wir Nummern. Insgesamt habe ich fast 12000 Brüder und Schwestern. Unsere Frauen sind als Arbeiterinnen tätig und die Männer sind Drohnen. Wir werden von einer Königin regiert und zahlreiche Kinder leben ebenfalls hier im Nest in Deinem Verschlag.“
„Ehrlich gesagt habe ich gerade darüber nachgedacht, Euer Nest zu entfernen.“
„Bei der Vielzahl an Brüdern, Schwestern und Kindern würdest Du zum Massenmörder werden. Das würde ich mir gut überlegen.“
Massenmörder, dachte ich mir, das klingt sehr heftig. Aber Nummer 3457 hatte recht. Ich wäre in gewisser Weise tatsächlich ein Massenmörder.
„Okay, ich werde es mir überlegen. Seid ihr denn gefährlich?“
„Nein, wir sind eigentlich gar nicht gefährlich. Wir sind nicht geboren, um Menschen anzugreifen. Wir sind quasi eine reine Verteidigungsarmee und versuchen nur uns und unsere Kinder zu schützen.“
„Das machen wir Menschen im Grunde genommen auch. Ich würde ebenfalls immer versuchen meine Familie und meine Kinder zu schützen. Du sprachst davon, dass es bei Euch Arbeiterinnen gibt. Welche Aufgaben müssen diese denn erfüllen?“
„Nun, es gibt verschiedene Bereiche. Zu den Aufgaben zählen Nestbau, Larvenfütterung, Zellensäuberung, Nahrungsbeschaffung und Versorgung der Wespenkönigin.“
„Das ist ja interessant. Wovon ernährt ihr Euch denn?“
„Die Erwachsenen ernähren sich von Nektar, Pollen und Steinfrüchte wie Zwetschgen, Pfirsiche und Aprikosen. Unsere Kinder bekommen Fleisch von toten oder gefangenen Tieren. Oder aber Fleisch, welches ihr Menschen auf den Grill gelegt habt. Auch das lockt uns natürlich an. Das Wichtigste für uns ist, dass wir unsere Kinder versorgen können.“
„Gut, damit könnte ich vielleicht leben. Und so oft grille ich nicht. Wie lange wird denn das Nest
hier in meinem Verschlag benutzt? Seid ihr jetzt für immer hier?“
„Ein Jahr, es handelt sich lediglich um ein einziges Jahr. Die Drohnen paaren sich mit den jungen Königinnen und sterben danach. Die Arbeiterinnen und ihre Königin sterben dann im Winter. Die jungen Königinnen überwintern außerhalb des Nestes in einem eigens dafür gebauten Unterschlupf. Im Frühjahr gründen sie dann an geeigneter Stelle ihren eigenen Wespenstaat. Aber das wird mit größter Wahrscheinlichkeit nicht an derselben Stelle sein. Du wirst also nächstes Jahr hier kein Nest haben. Es sei denn, Du entfernst das Nest. Dann könnte eine Jungkönigin annehmen, dass hier noch kein Staat existiert und würde sich hier ansiedeln.“
„Das wäre natürlich ein weiteres Argument Euer Nest hier für das eine Jahr zu belassen. Davon mal abgesehen, seid ihr eigentlich für irgendetwas nützlich? Eure Existenz muss ja einen Grund haben.“
„Oh ja, den gibt es absolut. Gerade Ihr Menschen pro fitiert von uns. Wusstest Du, dass ein Wespenstaat an einem Tag zwischen einem halben und zwei Kilo pflanzenfressende Insekten für ihre Brut fängt? Darunter befinden sich auch Blattläuse, Bremsen, Fliegen und Mücken. Das sage ich jetzt nicht gerne, aber wir Wespen sind außerdem die Nahrungsgrundlage für andere Tiere wie Vögel oder Mäuse. Du siehst, wir sind nicht nutzlos.“
„Nein, nein, das habe ich auch nicht erwartet. Ich wusste nur nicht wofür Ihr da seid. Zwei Kilo? Und auch Blattläuse? Das ist wirklich toll.“
„Einen anderen Grund uns zu verschonen gibt es noch. Nach dem Bundesnaturschutzgesetz zählen wir in Deutschland zwar nicht zu den gefährdeten Tierarten, trotzdem ist es verboten uns ohne vernünftigen Grund zu verletzen, zu fangen oder zu töten. Und hier in diesem quasi verlassenen Verschlag stören wir doch nicht wirklich. Unsere Königin hat sich im Frühjahr ganz bewusst an diesem Ort angesiedelt, weil wir hier unsere Ruhe haben.“
Der Kompromiss
„Du hast mich endgültig überzeugt. Ich werde Euch dulden und Euer Nest nicht anrühren. Die paar Holzarbeiten kann ich zur Not auch vor dem Verschlag erledigen oder verschiebe sie halt auf den Winter. Vielen Dank, dass ich so viel über Euch lernen durfte.“
„Gerne. Und vielen Dank, dass wir für dieses Jahr hier leben dürfen.“
Nummer 3457 bewegte die Flügel, schwang sich in die Luft und flog zurück ins Nest. Ich schloss die Tür vom Verschlag und beschloss die Wespen in den nächsten Wochen in Ruhe zu lassen und den Verschlag bis zum Beginn des Winter nicht mehr zu betreten. Und jedes Mal wenn ich jetzt eine Wespe sehe, denke ich an Nummer 3457 und an das tolle Gespräch.