Seit alten Zeiten hat man sich Gedanken über diese seltsame Pflanze gemacht, die da oben in den Zweigen der Bäume wohnt. War es ein böses oder gutes Omen, wenn man diese Pflanze zu Gesicht bekam, denn sie war ja ein ungebetener Gast, der sich dort ohne geladen zu sein, Platz genommen hatte. Was wissen wir über diesen ungebetenen Gast? Was berichtet die Sage über sie, der heiligen Pflanze der Druiden?
Die Göttin Freya und ihr Sohn Baldur
Die Göttin Freya hatte alle Bäume, Blumen und Pflanzen gebeten ihren holden Sohn, den Lichtgott Baldur, zu beschützen; denn es war ihr prophezeit worden, dass er durch einen Pfeil getroffen werde und sein Tod den Untergang des ganzen Göttergeschlechtes herbeiführen würde. Die Esche, die Hasel, die Eiche, das Schilf, kurzum alle Bäume und Pflanzen hatten der flehenden Göttin versprochen sich niemals zu einem Pfeil verwenden zu lassen, welcher dem Göttersohn gelten sollte. Allen Blumen, allen Sträuchern, allen Bäumen hatte Freya dieses Versprechen abgenommen. Nur die Mistel hatte sie vergessen. Aus dem Holz dieser Pflanze wurde dann auch der Pfeil gemacht, dessen sich der blinde Hödur bediente, der dem jungen Lichtgott Baldur den Tod brachte. Da verfluchte Freya die Mistel. Von diesem Zeitpunkt an sollte sie keine Stätte mehr auf Erden haben.
Die heimatlose Mistel
So wurde die Pflanze ganz heimatlos und wanderte mit dem wehenden Wind hin und her. Aber kein Feld, keine Scholle wollte sie aufnehmen, bis ein Samenkorn einen Baum fand, welcher nichts von der bösen Tat und von dem Fluch der Göttin gehört hatte. In seiner Rinde ließ sich das Samenkorn nieder. Seit dem wächst die Mistel, von der Scholle verbannt, bei alten Bäumen zu Gast oben in dem Gezweig. Lang schon ist der Mistel ihre Untat verziehen, da sie freundlich selbst im Winter grünt und so schöne perlenblasse Früchte trägt, zu einer Jahreszeit, wo sich kaum etwas anderes als Schmuck in unseren Zimmern anbietet.
Freunde der Vögel
Besonders die Vögel des Winters sind ihr dankbar, weil sie ihnen mit ihren Beeren den Tisch deckt, während überall der Winter alles mit Schnee zugedeckt hat. Aus Dankbarkeit und als Bestätigung ihrer Freundschaft, da diese Früchte durch ihren Magen gehen, verteilen sie die Mistelsamen ringsum auf die Baumzweige in ihrem Gewölle und werfen ihn auf die Äste von Pappeln und andere Bäume ab, wo er sich schnell festwurzelt und weiterwuchert. Die Amseln und Drosseln sagen der Mistel nur Gutes nach, wenn auch die Botaniker sie eine Schmarotzerpflanze nennen. Auch wir glauben an die guten Eigenschaften des Mistelgrüns. Wir hängen die Zweige über der Tür auf und wer sich unter dem Mistelzweig begegnet, der darf sich küssen. Die Mistel erlaubt es. Auch den Druiden war die immergrüne Mistel eine heilige Pflanze.
Die Mistel als heilige Pflanze
Die druidischen Priester nannten sie die Allheilerin und schnitten sie zur Wintersonnenwende unter besonderen Feierlichkeiten mit bronzenen Sicheln von den Bäumen. Auch in Zaubertränken spielte die Mistel eine Rolle. Im Mittelalter galt sie als Mittel gegen Fallsucht. Dass in ihr wirksame Heilstoffe gegen mancherlei Kreislaufstörungen verborgen sind, hat die Naturheillehre erst in unseren Tagen festgestellt. Trotzdem ist sie auch heute noch ein rätselhaftes Gewächs. Wie sie auf die Bäume kommt habe ich ja schon erzählt, aber noch einmal, die Drosseln verzehren die blassen Beeren gern und säen unbewusst die Samen auf den Ästen aus. Das Fruchtfleisch besitzt große Klebkraft. Es verklebt sogar den Vögeln den Schnabel und die Zehen. Beim Wetzen leimen sie die Kerne auf den Baumästen fest. Diese senden Wurzeln in die Rinde und werden oft 50 Jahre alt.
Noch etwas Naturgeschichtliches
Die auf der Kiefer schmarotzende Mistel geht niemals auf die Tanne, auch nicht auf Laubbäume, lebt aber auf Lärchen und Zedern, auch Fichten verschont sie. Die Tannenmistel geht nie auf Kiefern sowie Laubholz und Laubholzmisteln nicht auf Nadelhölzer. Die einen haben sich an die Pappeln, Rosskastanien, Akazien und Apfelbäume gewöhnt zu schmarotzen. Die Lindenmistel gedeiht auf Apfel und Hasel. Die Birnenmistel zieht den Apfel vor. Die Eichenmistel befällt nur diesen Baum. Die Wirtswahl der Mistel ist rätselhaft und noch völlig ungeklärt.