„Piep, piep, piep, piep, piep, piep, piep!“ „Wer bei so einem nervigen Ton nicht wach wird dem ist auch nicht mehr zu helfen“, dachte ich mir als ich vollkommen automatisiert auf dem Rücken liegend den rechten Arm Richtung Nachttisch schwinge und mit einer eingeübten Präzision den Aus-Schalter des Weckers treffe. Ein Blick aufs Handy zeigt mir mit gnadenloser Brutalität, dass es wieder einmal Montag Morgen ist. Jetzt noch schnell ein Blick in den Kalender: „Ungerade Woche. Also muss ich heute ins Büro.“ Meine Kollegen und ich haben im Zuge der Corona Pandemie vereinbart, dass die eine Hälfte an ungeraden Wochen im Büro sitzt und die andere Hälfte im Homeoffice zu Hause. In geraden Wochen ist es genau umgekehrt. Angezogen und frisch geduscht am Küchentisch angekommen, gönne ich mir noch eine große Tasse Kaffee und werfe gleichzeitig einen Blick aufs Handy, um die Topmeldungen des Tages zu überfliegen: „Ach ja, der Lauterbach warnt mal wieder vor der dritten Welle. Der Spahn wurde von Frau Merkel ausgebremst. Söder will lockern und die anderen regen sich auf. Die Inzidenz und die Zahl der Infizierten steigen wieder. Einige Konzerne wollen gegen den Lockdown klagen. Und hier: Meghan und Harry sind wieder schwanger. Der nächste Promi bei The Masked Singer wurde enttarnt und ein Schaf wurde von 35 kg Wolle befreit. Na prima. Läuft. Mein Tag kann beginnen.“
Er spricht
Beim ersten Schritt vor die Tür fiel mir wieder ein, dass es die letzten zwei Tage enorm viel geschneit hatte. Daher ging ich besser zu Fuß zur Arbeit, aber ich brauchte Mütze, Schal und Handschuhe aus dem Auto. Auf dem Weg zum Auto fiel mein Blick in den Garten meines Nachbarn. Seine Kinder hatten dort gestern einen Schneemann gebaut. „Du meine Güte. Jetzt sehe ich erst wie hässlich Du wirklich bist.“ Nachdem ich meine Sachen aus dem Auto in der Hand hielt, schlug ich die Autotür mit einem großen Knall zu. Wumms!!! „Hey, wieso beleidigst Du mich einfach so? Ich habe Dir nichts getan.“ Ich drehte mich hastig um und sah – niemanden. Als ich die Autotür abschloss hörte ich erneut eine Stimme hinter mir: „Hey, ich rede mit Dir!“ Dieses Mal drehte ich mich schneller um und sah noch im letzten Moment wie der Schneemann seinen Mund bewegte. Es war tatsächlich der Schneemann. Ich schüttelte mich und rieb mir die Augen da sprach der Schneemann erneut: „Ich erwarte eine Entschuldigung von Dir.“
Ich entgegnete perplex: „Äh, natürlich. Ich entschuldige mich. Das war nicht so gemeint. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Du……lebst.“
„Du lebst doch auch. Aber gut, Entschuldigung angenommen. Darf ich Dich ein Stück begleiten?“
„Natürlich, kein Problem.“
„Weißt Du, ihr Menschen seid schon komisch. Nie seid ihr mit etwas zufrieden. Ihr wollt immer noch mehr und immer noch schneller und immer noch weiter. Wieso ist das so?“
„Du kannst ja Fragen stellen. Wieso ist das so? Keine Ahnung! Es ist eben so. Alle machen das so.“
„Das kann nicht sein. Ich habe zum Beispiel von Menschen in der Ukraine gelesen, die sich nicht länger manipulieren und bevormunden lassen wollen. Und ich habe von Kindern und Jugendlichen gehört, die sich für den Klimaschutz stark machen.“
„Ja, die gibt es auch. Aber das sind nur wenige Menschen. Dann hast Du sicherlich auch von Managern gehört, die Autos manipulieren ließen und dafür mit enorm viel Geld auch noch belohnt wurden? Oder von einem Präsidenten, der täglich gelogen hat? Oder von einem Machthaber, der sein eigenes Volk verhungern lässt? Oder von Unternehmen, die durch Corona noch viel reicher geworden sind als sie ohnehin schon sind?“
„Die gibt es sicherlich auch. Aber im Gegensatz zu Dir bin ich der Meinung, dass das nur wenige sind. Die meisten Menschen sind ehrlich und ich kann Dir viele Gegenbeispiele nennen. Es gibt viele Hilfsorganisationen, die Menschen auf der Flucht helfen, oder die den Naturschutz auf ihre Fahnen geschrieben haben, oder die bedrohten Tieren helfen, oder in Afrika Brunnen bauen, oder anderen Menschen an ihrem Wohlstand teilhaben lassen. Gerade erst habe ich wieder von dem Unbekannten in Braunschweig gelesen, der erneut eine große Geldsumme gespendet hat.“
„Das stimmt. Solche Menschen gibt es zum Glück auch. Aber die haben meist nicht so viel Einfluß und Macht, um Veränderungen zu bewirken.“
„Macht ist ein unglaublich effektives Instrument. Ich habe manchmal das Gefühl, dass das Wesen der Menschen mit zu viel Macht nicht umgehen kann. Aber ich finde schon, dass solche Menschen – wie Du sie nennst – eine Menge bewirken können. Wenn es einen Brunnen mehr in Afrika gibt und dadurch hunderte Menschen nicht verdursten, ist doch schon eine Menge erreicht. Und wenn tausende Kinder und Jugendliche für den Klimaschutz demonstrieren und dadurch die Politik zum Handeln gezwungen wird, ist doch viel erreicht. Und der Ursprung war die Unzufriedenheit eines einzelnen Mädchens. Du siehst, Macht und Veränderungen können ihren Ursprung in einem kleinen Samenkorn haben.“
„So habe ich das noch nie betrachtet. Aber irgendwie hast Du recht. So kann man das auch sehen.“
„Ich würde mir für euch Menschen wünschen, dass ihr den Blick mehr auf die Sonnenseite der Betrachtung legt und das Brennglas nicht immer nur auf der Schattenseite ansetzt. Wo Schatten ist muss auch Licht sein.“
„Du bist ganz schön schlau für einen Schneemann. Woher kommt das?“
„Ach, weißt Du. Ich habe viel Zeit zum Beobachten, Lesen, Zuhören und Nachdenken. Da lernt man viel.“
„Aber Du wirst sehr bald schon sterben.“
„Das ist richtig. Aber bis dahin freue ich mich, dass ich an der frischen Luft stehen kann, die Vögel und den blauen Himmel beobachten darf, mir die Sonne ins Gesicht scheint und der Wind um meine Karottennase weht. Was will ich mehr? Außerdem weiß ich, dass ich im nächsten Winter erneut zum Leben erwache. Das alles macht mich zu einem sehr glücklichen Schneemann.“
Nur ein Traum?
Mittlerweile sind wir am Büro angekommen und auf dem Parkplatz wird eine Autotür zugeschlagen. Wumms! „Du bist wirklich ein schlauer und glücklicher Schneemann“, sagte ich noch als ich bemerkte, dass der Schneemann gar nicht mehr da war. Ich sah mich um, aber der Schneemann war wirklich weg. Was für ein verrückter Wochenstart.
Den ganzen Arbeitstag lang gingen mir seine Worte nicht aus dem Kopf und als ich abends nach Hause kam guckte ich sofort in den Garten des Nachbarn. Dort stand der Schneemann, stumm und unbeweglich. Aber als ich weiterging wirkte es so, als ob er mir kurz zuzwinkerte.